Unpassende Gedanken                                                          Film-Kolumne von Felix Aeppli

 

Von Kracauer zu Li Shaohong

 

Filme sind niemals reine Kunstprodukte. Siegfried Kracauer war vermutlich der erste Sozialwissenschafter, der Kinofilme systematisch zur Untersuchung des Massenverhaltens auswertete. Im bahnbrechenden Werk „From Caligari to Hitler“, 1947 bei Princeton University Press erschienen (und in Deutschland jahrzehntelang nur in einer skandalös verstümmelten Fassung greifbar), zeigte er auf, dass das Kino der Weimarer Republik an diverse unterschwellig vorhandene Stimmungen im Publikum appellierte, welche sich die Nazis danach politisch zu Nutze machten. Namentlich ging es dabei um eine generelle Psychologisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, um ein übersteigertes Verehrungsbedürfnis für historische Persönlichkeiten und um einen Irrationalismus, der sich beispielsweise in einer vorbehaltlosen Natur- und Bergschwärmerei niederschlug.

 

            Seit Kracauer lassen sich Filme als Seismographen, ja gar als vorlaufende Indikatoren gesellschaftlicher Prozesse lesen, selbstverständlich nicht nur im Deutschland der Zwischenkriegszeit. „Füsilier Wipf“ (Leopold Lindtberg / Hermann Haller), der Schweizer Film-Grosserfolg des Jahres 1938, spielte im Aktivdienst 1914/18 und wurde vom Publikum seinerzeit doch mit jeder Aussage und mit jedem Bild auf die aktuelle Situation bezogen, den drohenden Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Umgekehrt griffen die Schweizer Filmschaffenden wenig später, während dieser Krieg noch im Gange war, mit „Marie-Louise“ und „Die letzte Chance“ (Leopold Lindtberg, 1944 und 1945) das Thema Flüchtlingspolitik in einer Art auf, wie sie dann 1947 der Bundesrat mit der Botschaft  „Neutralität und Solidarität“ als offizielle aussenpolitische Linie definieren sollte.

 

Auch im ehemaligen Ostblock gingen Filme der gesellschaftlichen-politischen Entwicklung voran. Die Geschichte der tschechischen „Neuen Welle“ mit ihren zahlreichen subversiven Komödien, etwa „Horí, má panenko [Der Ball der Feuerwehr]“ von Milos Forman, 1967, liest sich wie eine Vorwegnahme des Prager Frühlings. Jiri Menzels „Ostre sledované vlaky [Scharf beobachtete Züge]“ aus dem Jahr 1966 spielte auf einer verschlafenen nordböhmischen Bahnstation zur Zeit der deutschen Besatzung im Endstadium des Zweiten Weltkriegs, hatte aber selbstverständlich nicht die damaligen deutschen Statthalter im Visier, sondern das Monopol der herrschenden KP. Der Film kann als Parabel für den gesamten Prager Frühling 1968 bis zum bittereren Ende, dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen am 21. August in die CSSR, gesehen werden. Milos, der jugendliche Held des Films, bringt den deutschen Munitionszug zur Explosion, wird aber selber im letzten Moment von den Wachtposten des hintersten Wagens erschossen.

 

Kehren wir nochmals in die Schweiz zurück. Gemäss allgemeinem Verständnis sind die Jugendunruhen von 1980/81 „aus heiterem Himmel“ über das Land hereingebrochen. Ein Blick auf das einheimische Filmschaffen in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre belegt, dass dem nicht so ist. Alle  wichtigen Themen, Metaphern, Strategien und Umgangsformen der „Bewegung“ waren hier bereits angelegt. Die Kältemetapher findet sich schon im Titel von „Kleine frieren auch im Sommer“ (Peter von Gunten, 1978), sie ist aber auch ein Thema in „Les indiens sont encore loin“ (Patricia Moraz, 1977), einem Film, der mit dem Erfrierungstod der jugendlichen Hauptfigur Jenny endet, die ihrerseits vergeblich die Freiheit der Indianer - „Nur Stämme werden überleben“ - gesucht hatte. „Wir wollen alles, und zwar subito!“ könnte als Motto über Alain Tanners „Messidor“ aus dem Jahre 1979 stehen, einem Werk, das gleichsam den Ablauf der Ereignisse von 1980/81 antizipierte: Spielerischer Ausbruch der Jugendlichen - lustvoller Widerstand - gewaltsame Flucht - polizeiliche Niederschlagung.

 

Wenn die These vom Film als vorauslaufendem Indikator gesellschaftlicher Prozesse stimmt, dann müsste sich aus dem aktuellen Filmschaffen die gesellschaftliche Zukunft ablesen lassen. Das trifft auch zu, aber eben nur „im Prinzip“, das heisst, unter Einbezug aller relevanten Fakten, die bekanntlich erst im Nachhinein sichtbar werden. Ich erinnere mich an die Begeisterung, die ich beim Besuch des Films „Xe se qing chen (Bloody Morning)“ von Li Shaohong (1990, nach Gabriel Garcia Marquez’ „Chronik eines angekündigten Todes“) empfand, einem Film, der ein in Korruption und Elend gefangenes chinesischen Dorf zeigte. Ein solches China-Bild war für mich ‑ nur kurze Zeit nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking  ‑ Überraschung und Hoffnung: Wenn die Filmschaffenden der sogenannten 5. Generation, zu der die Autorin Li Shaohong zählte, ihr Land und dessen Probleme in einem derartigen Licht zeigen konnten, so dachte ich, wären die Tage des Regimes wohl gezählt. In meiner Begeisterung hatte ich übersehen, dass der Film in der VR China gar nicht freigegeben worden war und wohl bloss im Ausland gute Stimmung für die alte Garde machen sollte.

 

 

Quelle                                                                                        

Filmbulletin, 2/07, S. 56

 

Journalistische Arbeiten von Felix Aeppli                         

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