Der Film an der Expo 64 in Lausanne oder: Das Jahr Null des neuen Schweizer Films

Artikel aus dem Jahr 1994 von Felix Aeppli

Dr. phil., Historiker, Filmexperte & Stonologe, CH-8055 Zürich

 

Filme und Tonbildschauen waren an der Expo allgegenwärtig. «Was immer unser Land an Sehenswürdigkeiten zu bieten hat, wird, soweit es aus diesen oder jenen Gründen nicht "in natura" nach Lausanne gebracht werden konnte, in Bildern vorgestellt, aber nicht etwa nur in Stand-Photos, sondern weit mehr noch in Dia/Tonband-Vorführungen und Filmen», hielt die Medienzeitschrift Der Filmberater fest. Die Anzahl der Leinwände innerhalb der Ausstellung überstieg hundert bei weitem, und Mehrfachprojektionen waren an der Tagesordnung. Angesichts dieses Medienspektakels gaben die BesucherInnen kaum mehr als Statisten ab: «An der Landesausstellung ist alles Schauspiel und Vorführung; auch die Besucher, die vorüberziehen, gehören zu diesem Spiel. Einzeln, in kleinen oder grösseren Gruppen ergehen sie sich unermüdlich im Gelände, in der Vielfalt der Expo. Da und dort finden sie sich bei Vorführungen zusammen. Der Film beherrscht das Feld. In neuen, kühnen Verfahren macht er den staunenden Besucher mit den Menschen, mit Tatsachen, auch mit Industrien und Landschaften unserer Heimat vertraut. Der Film umgibt den Zuschauer, spielt mit ihm, hüllt ihn sozusagen mit einer Glocke von Bildern ein.»

Das Cinéma central, das Expo-Kino im Halbsektor "Bilden und Gestalten", ging im gesamten Filmangebot beinahe unter. Hier waren tagsüber Schweizer Werbe- und Dokumentarfilme (unter anderem die Uraufführung von Alain Tanners Les apprentis) zu sehen, abends, als die meisten BesucherInnen Lausanne freilich schon wieder verlassen hatten, lief ein Zyklus mit Schweizer Spielfilmen des vergangenen Vierteljahrhunderts. - Aus dem unübersehbaren Filmangebot der Ausstellung wurden wohl nur drei Produktionen von den Gästen bewusst wahrgenommen: Der SBB-Film Rund um Rad und Schiene im Sektor Verkehr, die EMD-Produktion Wehrhafte Schweiz, sowie der Kurzfilmzyklus des Neuenburgers Henri Brandt La suisse s'interroge auf dem "Weg der Schweiz". Diese drei Werke zeigen das einheimische Filmschaffen am Scheideweg: Die beiden ersten suchten dem Niedergang, in dem sich der Schweizer Film seit Beginn der 60er Jahre befand, mit enormem technischem Aufwand zu begegnen, verharrten aber inhaltlich im Bewährten; Brandts Kurzfilmzyklus gab sich bewusst bescheidener, suchte dafür inhaltlich neue Fragestellungen und markiert deshalb den Beginn des neuen Schweizer Films.

Walt Disneys Circarama war vor 1964 nie in der Schweiz zu sehen gewesen, und der zwanzigminütige Film Rund um Rad und Schiene bildete deshalb eine der Hauptattraktionen der Expo. Für die Vorführung hatten die SBB im Sektor Verkehr ein spezielles Rundtheater mit einem Durchmesser von 26,5m bauen lassen, das über 1200 Personen Platz bot. Die Circarama-Vorführung beruhte auf einer kreisförmigen Anordnung von neun Filmprojektoren, die ihr Bild auf die zusammenhängende Leinwand von über 90 m Länge und 7 m Höhe projizierten. Die BesucherInnen fanden sich so inmitten des filmischen Geschehens. Auch wenn sich an den Nahtstellen der Bildprojektionen gewisse Unschärfen einstellten, war der Effekt eindrücklich. (Produzent Ernst A. Heiniger hat das Circarama-Verfahren später in Hollywood mit einer einzigen 360-Grad-Kamera perfektioniert.) Inhaltlich jedoch bot der von den SBB, den Schweizer Privatbahnen und der schweizerischen Industrie für Eisenbahnmaterial in Auftrag gegebene Film wenig mehr als eine Anhäufung modernster Verkehrsmittel in Kombination mit touristischen Sehenswürdigkeiten: Berner Gelenkbus mit Zytgloggeturm, blauweisses Züri-Tram auf Quaibrücke, Luzerner Trolleybus vor Kapellbrücke, Süd-Ostbahn mit Einsiedler Stiftskirche, sodann einige TEE-Zug-Reiseziele im Ausland, insbesondere die Champs Elysées in Paris, die Elbebrücken bei Hamburg und das Riesenrad in Wien. Nach dem Blick in die Hallen einiger Schweizer Maschinen- und Lokomotivfabriken rollten einige Parade-Bahnstrecken über die Panormama-Leinwand: der Landwasserviadukt bei Filisur, die Zahnradbahn auf den Rochers-de-Naye und der Kehrtunnel in der Biaschina. Zum Abschluss kamen die Kleine Scheidegg im Tiefschnee, die Sesselbahn auf den Grindelwald-First und die Gornergratbahn mit dem Ausblick auf nicht weniger als zwanzig Viertausender ins Bild.

High Tech und Landimythen

Der vom EMD produzierte, ebenfalls rund zwanzigminütige Film Wehrhafte Schweiz kombinierte die Mythen der Aktivdienstgeneration mit militärischem High-Tech anno '64: Tollkühne Loopings über Alpenkämme und zeitgeraffte Fahrten auf engen Postautostrassen wirbelten das Publikum in den Film hinein, der im berühmten Beton-Igel in Dreifachprojektion auf drei Leinwänden von je 410 Quadratmetern zugleich gespielt wurde. Die Schweiz wurde dabei einmal mehr zum Sonderfall erklärt: «Das Herz Europas nennt man die Schweiz mit ihren Bergen, Alpen, Tälern und Seen. Beinahe etwas abseits vom grossen Weltgeschehen lebt hier ein arbeitsames, friedfertiges Volk», kommentierte der Sprecher die Einleitungssequenz mit Aufnahmen aus dem Hochgebirge. «Dieses Land war auch in Zeiten der Gefahr und des Krieges immer wieder eine Insel des Friedens [...] Auch in gefahrvollen geschichtlichen Zeitabschnitten konnte sich die Schweiz immer ihre Freiheit bewahren, weil sie stets wehrhaft und bereit zur Verteidigung war.» Ein Blick in eine Appenzeller Landsgemeinde symbolisierte «die direkteste Form der Demokratie» (selbstverständlich ohne Hinweis auf das 1964 noch immer fehlende Frauenstimmrecht), ein Blumenfeld im Bergell stand stellvertretend für «immerwährende Neutralität». Mit Radar, Funk und Ueberschall-Flugzeugen wurde der zeitgemässe Ausbildungsstand der Armee demonstriert. Nicht allein die Defensive wurde geübt, sondern auch der Gegenschlag, unter Einsatz von Napalm und unter Verlust von ganzen Tannenwäldern, mittels Aufnahmen, an denen die Filmproduzenten Rudolf Farner und Hans Looser das Publikum durch eine subjektive Kameraeinstellung hautnah teilhaben liessen, die aber heute wegen ihres rücksichtslosen Umgangs mit der Natur nicht allein den Protest der Grünen hervorrufen würden.

Der fragende Blick

«Die meisten Filme der Expo demonstrieren, affirmieren», schrieb der Filmkritiker Martin Schaub nach einem Rundgang durch die Ausstellung, um sich dann La Suisse s'interroge zuzuwenden, einer Kurzfilmserie, die in fünf aufeinanderfolgenden Sälen im "Weg der Schweiz" gezeigt wurden: «Die fünf dreiminütigen Kurzfilme von Henri Brandt, vielleicht die schwierigsten und wichtigsten der Ausstellung, fragen, sie wecken Zweifel, aktivieren den Zuschauer.» Der erste Beitrag, La suisse est belle/Die Schweiz ist schön/La Svizzera è bella, zeigte wohl in Farbe und auf Breitleinwand das vertraute Postkartenbild des Landes. «Die Schweiz ist wohlhabend», «Alles ist zum besten bestellt», wurde verkündet, Bilder des Wohlstandes und des Fleisses zogen vorbei, doch dahinter war bereits das grosse Fragezeichen zu ahnen. Im zweiten Projektionssaal wurden in Schwarzweissbildern, wie sie in ihrer Härte im Schweizer Film zuvor nie zu sehen waren, die ersten Fragen gestellt: Was tun wir für unsere Gastarbeiter? Was gegen die Wohnungsnot? Was gegen die Armut der Alten? Der dritte Beitrag, ein Mini-Spielfilm mit dem Titel La course au bonheur/Der Weg zum Glück/La corsa alla felicità, schilderte das Leben einer dreiköpfigen Familie. Nochmals Schaub: «Dass [die Familie] dreiköpfig ist, hat schon seine Bedeutung. Der Schweizer erscheint als Opfer der Wohlstandsgesellschaft und der ihr immanenten Gefahr des durch Reklame angestachelten Ueberkonsums, der Schweizer ohne Zeit, der Knecht des Lebensstandards, der seine Beziehungen zum Menschlichen und zur Natur verloren hat. Eine Sonntagsfahrt beschliesst den Film. Noch nicht oft haben wir eine eindrücklichere Charakterisierung der Leere gesehen. Im funkelnden Wagen, in sogenannter Freizeitkleidung fährt man aus; eintönig rasen die Strassenleitlinien auf einen zu; aber im Fond des Wagens sitzt der Sohn, allein, mit traurigen Augen. Die Fahrt der Kamera auf sein Gesicht zu ist deshalb so anrührend, weil der Knabe die Zukunft verkörpert. Die Frage nach der Zukunft, zentrales Thema des zweiten Teils des "Wegs der Schweiz", wird hier am eindrücklichsten gestellt: Zukunft ohne geistiges Mass des Menschlichen, ist das unsere Zukunft?» Der vierte Teil der Serie konfrontierte das Publikum auf drei Leinwänden in kontrastierenden Projektionen mit den negativen Folgen des Wachstums: Wohin mit den Abgasen? Wohin mit den Abfällen? Wie dem Verlust von Heimat begegnen, wenn wir dem Beton bedenkenlos Boden und Natur opfern? Wieviele Tote wollen wir alljährlich dem Moloch Verkehr überlassen? Dann als Schlusspunkt der unüberhörbare Appell Ton pays est dans le monde/Die Schweiz gehört zur Welt/Il tuo paese è nel mondo. Auf zwei Projektionsebenen arbeitete Brandt kontrapunktisch, mit Wochenschaumaterial und Ausschnitten aus seinem eigenen Film Madagascar au bout du monde (1960). Da war auf der einen Leinwand ein Raketenstart und kurz danach die Rückseite des Mondes zu sehen, während auf der andern ein blindes Kind mit den Fingern auf einem Reliefglobus die Welt ertastet.

Arbeit und Entfremdung, Fremdenfeindlichkeit, Alter, Wohlstandsdenken, Wachstumskrisen und Umweltbelastung, Solidarität mit der Dritten Welt:: La Suisse s'interroge schlug fast sämtliche Themen an, mit denen die einheimischen Filmschaffenden nach 1964 einfühlsam und engagiert zur Aktualität zurückfanden und damit allmählich die Anerkennung zurückgewannen, die der alte Schweizer Film verspielt hatte.

Quelle: Kunst+Architektur in der Schweiz, Jg. 45, 1994, Heft 1 [Thema: Expo 64], S. 60-65

Literatur

 

Felix Aeppli's Web-Dokumentation Schweizer Film und Film in der Schweiz

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